Louise Glück: Marigold und Rose © Luchterhand
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Eine Erzählung - Louise Glück: "Marigold und Rose"

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Als die 1943 in New York geborene Autorin Louise Glück 2020 den Literaturnobelpreis erhielt, war die Verwunderung hierzulande ziemlich groß. Kaum jemand kannte die zurückgezogen lebende Dichterin, die in den USA mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award ausgezeichnet worden war. Ihre Gedichtbände waren in Deutschland längst vergriffen oder noch gar nicht übersetzt. Eine literarische Lücke, die der Luchterhand Verlag schließen will: Nach den Lyriksammlungen "Winterrezepte aus dem Kollektiv" sowie "Treue und edle Nacht" ist nun die Erzählung "Marigold und Rose" erschienen.

Den Nobelpreis erhielt Louise Glück "für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht": Das spürt man auch beim Lesen der Erzählung, die Louise Glück noch kurz vor ihrem Tode 2023 fertigstellte: Sie liest sich wie eine langes Gedicht, in dem verschiedene Stimmen sich über die Schönheit und Rätselhaftigkeit des Lebens austauschen. Es werden Empfindungen aufgerufen, die man noch nicht deuten, Gedanken geäußert, die man noch nicht fassen kann. Die Vergangenheit ist ein Geheimnis, die Gegenwart ein Abenteuerspielplatz, die Zukunft eine Verheißung, die Sprache ist eine Zauberwerkstatt, in der jeder Mensch sich erst noch erfahren und erkunden.

Louise Glück leiht zwei zarten Wesen ihre Stimme

Das alles ist ziemlich schwierig: Denn die Gedanken, die durcheinander flitzen, die Stimmen, die um Aufmerksamkeit bitten, die Erlebnisse, die verarbeitet werden müssen, das sind die Gedanken, Stimmen und Erlebnisse von kleinen Kindern, von Babies, die eigentlich noch gar nicht sprechen, sondern nur ein paar Laute von sich geben und nur ein paar erste Worte lallen können. Sie heißen Marigold und Rose, und Louise Glück leiht diesen beiden zarten Wesen ihre Stimme, bringt zum Klingen, was sich in den Köpfen und Gedanken der kleinen Mädchen ereignet, was sie denken, fühlen, wollen und wünschen.

Jeder Mensch ein kleines Wunder

Louise Glück ist eine poetisch fantasievolle Autorin, die genau hinschaut und kapiert, was in den Köpfen und Herzen der Zwillinge vor sich geht und uns klar machen will, dass jeder Mensch ein kleines Wunder und jeder anders ist, auch Zwillinge sich deutlich voneinander unterscheiden und einen resistenten Kern in sich tragen, der sie gegen Gleichmacherei schützt.

Marigold ist nachdenklich, still, zurückhaltend, sie beobachtet neugierig, was ihre Eltern anstellen, wenn sie sie baden und füttern, welche seltsamen Erklärungen die Eltern abgeben für eigentlich doch ganz einfache Dinge, wie eigenwillig sie mit der Wahrheit umgehen und welche Lügen sie ihr auftischen, um sie nicht zu verunsichern. Ihr kleiner Kopf ist voller Fragen: Warum ist die eine Großmutter ständig da, die andere aber nie? Warum muss die eine sterben und darf die andere weiterleben? Was ist überhaupt der Tod? Muss ich auch sterben? Warum bin ich eher wie Vater, der sich oft in ein Schneckenhaus aus Grübeleien zurückzieht? Und warum bin ich so ganz anders als Rose, meine Schwester?

Denn Rose schaut offen in die Welt, bezaubert alle mit ihrem frechen Lächeln, sie ist abenteuerlustig und mutig und kommt eher nach ihrer Mutter, krabbelt laut krakeelend die Stufen der Treppe hoch und kennt keine Gefahren.

Zurück an den Anfang

Rose würde auch nie auf die Idee kommen, über sich und ihre Schwester ein Buch zu schreiben: Aber genau das hat Marigold vor, sie kann zwar noch nicht lesen und nicht sprechen, aber sie weiß schon jetzt, dass sie irgendwann über ihr erstes Lebensjahr ein Buch schreiben wird - vielleicht genau das Buch, das wir in den Händen halten und in dem wir gleich zu Beginn folgendes erfahren:

"Marigold schrieb ein Buch. Dass sie nicht lesen konnte, war hinderlich, trotzdem nahm das Buch in ihrem Kopf Gestalt an. Die Wörter würden später folgen. (…) Marigold wusste, wie fremd ihrer Schwester das alles war, und sie wiederum fremdelte mit Roses unbeschwerter Geselligkeit, ihrer Neugier und ihrer Gelassenheit. Wahrscheinlich waren sie deshalb Zwillinge. Zusammen ergaben sie alles."

Louise Glück war seit langem an Krebs erkrankt und wusste um ihren baldigen Tod. Im Angesicht des nahen Endes, so scheint es, wollte sie noch einmal ganz an den Anfang zurück, zu den Mysterien der Geburt und den Märchen der Kindheit, die einen zeitlebens nicht loslassen und verfolgen, zu den großen Fragen des Daseins, dem Warum, Wozu und Wohin, Fragen, die man nicht beantworten, sondern nur immer wieder literarisch neu umkreisen kann.

Eine urkomische Reflexion über die Gründe und Abgründe des Lebens

Nach 13 Gedichtbänden und zwei Essay-Sammlungen zum Finale noch ein kleines Prosastück: Eine fantasievolle, scharfsinnige, schlaue und urkomische Reflexion über die Gründe und Abgründe des Lebens, gesehen mit den Augen von Kindern und beschrieben durch sie, die große Alte Dame der Poesie. Ein herrliches Spiel, ein würdiger Abschied, traurig und hoffnungsvoll zugleich.

Auch wenn man es nicht machen sollte, sucht man als Leser gern nach biografischen Bezügen, Hinweisen, ob und wie sich das Leben der Autorin im Buch spiegelt. Aus ihren Gedichtbänden konnte man immer wieder herauslesen, dass die Beziehung zu ihrer Mutter sehr schwierig war und Louise Glück zeitlebens unter dem Verlust und der Abwesenheit ihrer Schwester gelitten hat. Als Louise Glück geboren wurde, war ihre Schwester bereits gestorben, ihr Tod lag wie Schatten über der Familie und war ein Trauma der Autorin, die sich in ihren Gedichten immer wieder gegen ihre ungeliebte Mutter auflehnte und sich lyrisch eine ältere Schwester herbei fantasierte, mit der sie so gern gespielt und die Welt erkundet hätte.

Da liegt die Vermutung nahe, dass die stille, nachdenkliche Marigold, die ihren Vater vergöttert und mit ihrer Mutter fremdelt, ein verkapptes Abbild der Autorin ist und Rose ein Wunschbild der toten, aber nun zu neuem Leben erweckten Schwester ist. Man kann sich ausmalen, wie gern Louise Glück neben sich eine Rose gehabt hätte, die über ihren Schlaf und ihre Träume wacht und hofft, dass ihre Schwester von etwas Wunderschönem träumt. Louise Glück schreibt:

"Und genau so war es. Im Traum schrieb Marigold ihr Buch, ein echtes Buch, das Leute, die lesen konnten, auch lesen würden. Nichts konnte sie aufhalten, nicht einmal die Wörter. Sie schrieb die ganze Nacht. Sie schrieb und schrieb und schrieb und schrieb. Das Ende war der Morgen. Ich muss das irgendwo gelesen haben, dachte Marigold am nächsten Tag. Aber natürlich irrte sie sich, denn sie konnte noch nicht lesen."

Das ist so schön und beglückend, so weise und poetisch. Ihre unverkennbare Stimme wird mir fehlen.

Frank Dietschreit, radio3