Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz © Penguin
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Roman des Literaturnobelpreisträgers - Abdulrazak Gurnah: "Das versteinerte Herz"

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Als im Oktober 2021 die Schwedische Akademie den Namen des frisch auserkorenen Literaturnobelpreisträgers bekannt gab, war die Überraschung groß. Kaum jemand kannte hierzulande den aus Tansania stammenden Schriftsteller Abdulrazak Gurnah, der in Sansibar aufwuchs, Ende der 1960er Jahre nach England floh und lange Jahre an der Universität von Kent als Professor für englische und postkoloniale Literatur lehrte. Im Penguin Verlag werden Gurnahs Romane neu aufgelegt, manche, wie der 2017 in England erschienene Roman "Gravel Heart", auch erstmals ins Deutsche übersetzt. Unter dem Titel "Das versteinerte Herz" kommt jetzt die deutsche Fassung in den Buchhandel.

Gurnah erzählt - wieder einmal - von den fatalen Nachwirkungen des deutschen und englischen Kolonialismus in Ostafrika, berichtet von nachkolonialen Gesellschaften, die von sozialistischen Experimenten und von Bürgerkriegen verwüstet wurden und bis heute in der Armutsfalle des "Globalen Südens" gefangen sind.

Gnadenloser Chronist der gesellschaftlichen Verwerfungen

Als gnadenloser Chronist der gesellschaftlichen Verwerfungen schreibt er vom Verlust der Heimat, von Macht und Ausbeutung, Diktatur, Diskriminierung und Rassismus. Er entführt uns in die Welt der Migranten, die aus Afrika nach Europa fliehen und in den Ländern ihrer ehemaligen Peiniger und Ausbeuter Hilfe und Rettung suchen, die Armut und Willkür ihrer Heimat entfliehen wollen und hoffen, im Westen Demokratie und Freiheit zu finden, dort aber nicht willkommen sind. Sein Roman ist eine Zeitreise in die Geschichte des Kolonialismus und zeigt, wie die sozialen Verwerfungen sich in das Leben von Menschen hineinfrisst und der Kolonialismus wie ein Krebsgeschwür weiter wütet - bis in die Gegenwart.

Die Krankheit Kolonialismus zerstört das Leben einer Familie

Die Krankheit des Kolonialismus zerstört das Leben einer Familie, die in das Räderwerk der Politik gerät, und lastet wie ein Alptraum auf dem Leben des Ich-Erzählers: Er heißt Salim, wird Anfang der 1970er Jahre auf Sansibar geboren, ist ein Träumer, der lange Zeit nicht versteht, was um ihn herum geschieht, warum die Ehe seiner Eltern zerbröselt und sich die Familie in Geheimnisse und Widersprüche verstrickt. Als erwachsener, allwissender Erzähler blickt er immer wieder kopfschüttelnd auf sein früheres naives Dasein zurück und versucht schreibend mit sich ins Reine zu kommen.

Aus dem Nebel der Erinnerung erscheint ihm sein Vater, der eines Tages die Familie verließ und in Schweigen und Traurigkeit verfiel. Es dauert lange, bis Salim versteht, warum seine Mutter sich mit einem Minister des Regimes eingelassen und dessen Geliebte geworden ist. Dieser Mann verkörpert den Machtmissbrauch in einer nachkolonialen Gesellschaft, in der der sozialistische Traum schnell verfliegt und zu einer Diktatur mutiert, die Kritik unterdrückt und Andersdenkende ins Gefängnis wirft. Zu den Verhafteten gehört auch Salims Onkel Amir, ein Luftikus und Tausendsassa, dessen Lebenswandel dem Regime missfällt, und für dessen Freilassung Salims Mutter einen hohen Preis zahlen muss.

Salims Mutter schickt ihren Sohn nach England, dort lebt inzwischen Onkel Amir als Diplomat, er will, um eine alte Schuld abzutragen, seinen Neffen fördern, ihm ein Studium finanzieren. Als Salim sich entzieht und von den Betriebswissenschaften auf die Literatur umsattelt, ist Amir zutiefst gekränkt und verweigert jede weitere Unterstützung.

Das Schweigen durchbrechen

Salim ist von nun an ganz auf sich gestellt, er jobbt als Kellner und Hilfsarbeiter auf dem Bau, um seinen literarischen Ambitionen nachzugehen. Er haust in feuchten, dreckigen Löchern, leidet unter dem täglichen Rassismus in England, wird wegen seiner Herkunft und Hautfarbe gedemütigt. Manchmal schreibt er seiner Mutter Briefe, in denen er von seinem elenden Leben und seinen verlorenen Träumen berichtet. Die rätselhaften Familienzerwürfnisse, die Melancholie seines Vaters, die Untreue seiner Mutter, die Lügen seines Onkels: all das lastet jahrzehntelang auf seiner Seele.

Um die Wahrheit herauszufinden und zu verstehen, wie eng sein eigenes Schicksal mit den Widersprüchen der postkolonialen Gesellschaft verknüpft ist, muss er zurück nach Sansibar reisen und endlich das große Schweigen durchbrechen.

Ein Buch, das man nie vergessen wird

Tatsächlich sagt Salims Mutter einmal zu Amir, er habe ein "Herz aus Stein", weil er - um mit heiler Haut davonzukommen und Karriere zu machen - von ihr etwas Widerwärtiges verlangt. Das eigentliche "versteinerte Herz" ist aber in der Brust des Erzählers begraben, der - um Demütigung und Rassismus einigermaßen ertragen zu können - sich in einen Kokon verkapselt und alle Beleidigungen an sich abprallen lässt. Seine innere Verhärtung spiegelt sich auch in seiner Sprache: Er berichtet klar und kühl, was ihm widerfährt und warum er irgendwann den gordischen Knoten durchschlagen und alle Geheimnisse lösen muss, die ihn gefangen halten.

Gurnahs Prosa ist ohne literarische Schnörkel, unprätentiös, eindringlich, sie moralisiert und wertet nicht, sondern überlässt es dem Leser, welche Haltung er einnehmen und welche Konsequenzen er daraus ziehen will. "Das versteinerte Herz" ist eines dieser seltenen Bücher, die man in sich aufsaugt und niemals vergessen wird.

Frank Dietschreit, rbbKultur