Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer © Dumont
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Roman - Haruki Murakami: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer"

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Spiegelräume, einsame Männer und fließende Grenzen zwischen Realität und Fantastik: Auch in seinem neuen Roman wendet Haruki Murakami seine Erfolgsmischung an. Heute wird der Bestsellerautor aus Japan 75 Jahre alt. "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" ist ein Geschenk an seine Fans und an sich selbst.

Der Ursprung der Geschichte liegt über 40 Jahre zurück. 1980 veröffentlichte Haruki Murakami eine 100 Seiten lange Erzählung mit dem Titel "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" in einer japanischen Literaturzeitschrift. Allerdings war er unzufrieden mit ihr. Damals leitete Murakami noch einen Jazzclub in Tokio und hatte gerade erst als Romanautor debütiert. Die Jahre gingen ins Land, Murakami wurde zum berühmten Bestsellerautor, aber diese eine Geschichte ließ ihn nie los.

"Dieser Text hat mich immer beschäftigt, ja, gestört, wie eine kleine Gräte, die in meiner Kehle feststeckte", schreibt Murakami im Nachwort seines neuen Romans.

Nun also hat er die ursprüngliche Geschichte von der Stadt und ihrer ungewissen Mauer noch einmal überarbeitet und zeigt sich erleichtert. Die Gräte ist raus aus der Kehle. Wenn das kein schönes Geburtstagsgeschenk zum 75. ist!

Das Trauma der ersten großen Liebe

Vordergründig geht es mal wieder um einen Durchschnittsmann, der sich fremd mit sich selbst und in der Welt fühlt. Das prägende Erlebnis im Zentrum der Geschichte liegt schon 30 Jahre zurück: Mit 17 erlebt der namenlose Ich-Erzähler die erste große Liebe mit einem Mädchen. Es ist eine ganz unschuldige Teenagerliebe ohne Sex, dafür ist das Gefühl der inneren Verbundenheit und Seelenverwandtschaft umso größer. Bis das Mädchen eines Tages spurlos verschwindet. Diese Erfahrung zieht sich als großes Trauma durch das weitere Leben des Ich-Erzählers. Während er an der Oberfläche ein normales Leben führt, studiert, Bekanntschaften macht, Liebhaberinnen hat und später einen sicheren Job im Buchhandel ergattert, lässt ihn das Mädchen nicht los. Tief in seinem Inneren nagen Sehnsucht und Einsamkeit an ihm und er kann nicht anders, als seine einstige Freundin zu suchen.

Realitäten und Anderswelten fließen ineinander

Nun beginnt im Roman eine Reise an Orte, die sich zwischen der vermeintlichen Wirklichkeit, dem Surrealen und Unterbewussten fließend hin und her bewegt. Da ist zum einen die titelgebende Stadt mit der ungewissen Mauer. Hier haben sich die beiden Teenager regelmäßig getroffen. Allerdings nur im Geiste, denn diese Stadt ist ein fiktiver Raum, den die beiden in ihren Gesprächen erzählend erschaffen haben. Nichts als ein Produkt der Fantasie. Bei Murakami wird diese Stadt allerdings zu einem ganz konkreten Ort, einer Anderswelt, an dem sein Ich-Erzähler das Mädchen sucht. Sie hatte behauptet, dass ihr wahres Ich von ihrem Körper abgetrennt und ein eigenes Leben in besagter Stadt mit der ungewissen Mauer führe. In dieser Gegenwelt gibt es Einhörner, aber weder Musik noch Strom oder Gas, das Leben ist einfach und karg, die Turmuhr hat keine Zeiger sowie die Stadt keine andere Zeit als die Gegenwart kennt. Wer die Stadt betreten will, muss seinen Schatten beim Torwächter an der hohen Mauer abgeben. Geschützt von diesem Bollwerk sind Emotionen wie Leid oder Trauer ausgesperrt. Die schattenlosen Menschen hier leben ein ruhiges, aber tristes Leben.

Bekannte Motive tauchen auf

Das Schatten-Ich, der Seelenspiegel und die abgetrennte dunkle Seite sind berühmte Motive aus der Literaturgeschichte. Das Helle kann ohne das Dunkle nicht existieren und umgekehrt. Außerdem dürften die Schattenthematik und die ummauerte Stadt Murakami-Lesern bekannt vorkommen aus seinem Roman "Hard Boiled Wonderland und das Ende der Welt" von 1985. Eine Art Gegenstück zu dieser Geschichte, wie Murakami selbst sagt.

Bibliotheken als Orte des Übergangs

Im neuen Roman kann der Held wider Erwarten aus der abgeschotteten und bewachten Stadt flüchten und sich mit seinem Schatten wiedervereinen. Er beginnt mit Mitte 40 ein neues Leben als Leiter einer Provinzbibliothek in den Bergen, weit weg von Tokio. Hier trifft er auf den leicht schrulligen Ex-Direktor Herrn Koyasu und einen Jungen, der als "Savant" eine Inselbegabung hat. Er speichert alle Bücher beim Lesen fotografisch in seinem Gedächtnis ab.

Bibliotheken sind beliebte Schauplätze bei Murakami und markieren oft Orte des Übergangs. Hier gibt es zum einen die Bibliothek in der ummauerten Stadt, wo es zum Job der Hauptfigur wird, alte Träume zu lesen. Zum anderen ist da ihr Gegenstück in der realen Welt jenseits der Mauer, die Provinzbibliothek in den Bergen, an dem sich der Erzähler bald so fühlt als "wären Zeit und Raum leicht verschoben". Ein quadratischer Souterrain-Raum wird zum Ort, an dem sich Lebende und Tote begegnen können.

Selbstverständliche Parallelwelten

"Was ich Ihnen jetzt erzählen werde, klingt bestimmt seltsam", sagt eine der Figuren einmal. "Allerdings vertraue ich darauf, dass Sie meine Geschichte so akzeptieren wie sie ist. Denn aus irgendeinem Grund besitzen Sie die Fähigkeit, sie zu glauben."

Man hat das Gefühl, dass hier Murakami direkt zu seinen Leser:innen spricht. Man steigt mit ihm bereitwillig hinab in andere Welten, durschreitet psychische Abgründe und Bewusstseinszustände, das Fantastische existiert ganz selbstverständlich neben der "normalen" Realität. Wobei sich immer die Frage stellt: was ist real, was nicht?

Typisch Murakami!

Insofern ist "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" ein ganz typischer Haruki Murakami-Roman. Es geht auch um die Frage: welche Macht haben Geschichten und wie schafft man es, sich nicht zu verlieren in der Flut der unterschiedlichen Wirklichkeiten? Die Mauer der Stadt ist ein zwar massives, aber doch bewegliches Gebilde, das immer wieder ihren Verlauf leicht abändert. Die Stadt, doch nur eine Imagination, entwickelt ein Eigenleben und entgleitet der Kontrolle ihrer ursprünglichen Erschaffer. Vielleicht ist dies ein Verweis auf das Erzählen selbst und die Entstehung von Geschichten. Murakami treibt auf jeden Fall gerne seine Spielchen mit uns Leser:innen.

Ein Fest des Erzählens

Sein neuer Roman ist ein Fest des Erzählens mit vielen Verweisen auf frühere Werke. Haruki Murakami bezieht sich im Nachwort auf Jose Luis Borges und stimmt zu, dass es "im Grunde nur eine begrenzte Anzahl von Geschichten" gibt, "die ein Schriftsteller im Laufe seines Lebens richtig erzählen kann." Man könne also die begrenzte Anzahl von Motiven nur immer wieder in verschiedenen Formen bearbeiten.

Murakami-Fans kommen jedenfalls in "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" auf ihre Kosten.

Nadine Kreuzahler, rbbKultur

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