Frank Witzel: Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts © Matthes & Seitz
Matthes & Seitz
Bild: Matthes & Seitz Download (mp3, 11 MB)

Essay - Frank Witzel: "Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts"

Bewertung:

Viele Jahre war Frank Witzel nur literarischen Insidern bekannt. Dann aber, im Jahr 2015, mit bereits 60 Jahren, hatte er seinen ersten großen Erfolg: Für den Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" erhielt er den Deutschen Buchpreis. Auch mit seinem 2020 veröffentlichten Roman "Inniger Schiffbruch" stand der in Offenbach lebende Autor auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Jetzt erscheint sein neues Buch, es trägt den Titel: "Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts".

An Literaturgeschichten des 20. Jahrhunderts mangelt es nicht. Aber der Schriftsteller Frank Witzel will auch keinen neuen literaturwissenschaftlichen Wurf vorlegen. Ihn interessieren nicht die leuchtenden Ikonen, nicht die wichtigsten literarischen Debatten und einflussreichsten Gruppierungen. Er sucht nach den Autorinnen und Autoren, die durch die literarischen Raster fallen: Aus dem "See des Vergessens" fischt er nach den Verschollenen und Verkannten, nach denen, die nach einem Überraschungserfolg nie wieder ein Buch veröffentlicht und sich aus dem Literaturzirkus verabschiedet haben; nach denen, die immer zu früh oder zu spät waren, deren Werke keine Leser fanden und von der Kritik ignoriert wurden. Er sucht nach den Zweiflern und Zauderern, die ihre Werke nie für gut genug genug hielten, um sie zu veröffentlichen, oder die zu scheu waren, um mit ihren Texten an die Öffentlichkeit zu gehen.

Eine Art "Anti-Literaturgeschichte"

Witzel schreibt eine Art "Anti-Literaturgeschichte", kokettiert damit, dass die Zusammenstellung seiner literarischen Fundstücke ganz dem "Zufall" und seinen "persönlichen Vorlieben" geschuldet sind.

Der Weg führt ihn zu Haushaltsauflösungen und in Antiquariate, wo er manch seltsames Buch zutage fördert. Er ist ein Sammler und Jäger, der auf Flohmärkten in den Bücherkisten wühlt. Er durchstöbert seine eigene Bibliothek, findet auf dem Dachboden Kartons mit Manuskripten, die ihm in die Finger gekommen sind bei seiner Tätigkeit als Herausgeber von Anthologien und als Mitarbeiter von Zeitschriften.

Auffällig ist Witzels Vorliebe für die Lyrik der Beat-Generation in der Tradition von Allen Ginsburg und Jack Kerouac, der Cut-up-Literatur und Collage-Techniken, der alternativen Gegenkultur der 1970/80er Jahre, Lyriker wie Uli Becker und Jürgen Theobaldy, Autoren wie Herbert Achternbusch, Erica Pedretti und G. F. Jonke, die eine Zeitlang angesagt waren, dann aber ins literarische Abseits gerieten und schon zu Lebzeiten fast vergessen wurden.

Auch Witzel gehörte eine zeitlang zu den Verschollenen: Nach zwei Gedichtbänden (1978 und 1980) schwieg er als Buchautor 20 Jahre, bevor er sich 2001 und 2003 als Autor neu erfand und zwei Romane herausbrachte - "Bluemoon Baby" und "Revolution und Heimarbeit", an die sich heute kaum noch jemand erinnert.

Fischen im "See des Vergessens"

Witzel verzichtet auf ein Verzeichnis der verschollenen Autoren und Werke, wozu auch: die meisten Texte sind sowieso längst vom Buchmarkt verschwunden und finden sich höchstens noch in Antiquariaten. Er kennt auch keine Gewichtung und Einteilung in Kapitel, sondern kommt von Hölzchen auf Stöckchen, nennt ein paar biografische Daten, Namen, Geburtstag und Todesjahr des Autors oder der Autorin, gräbt einige Texte der Vergessenen aus und zitiert hier ein Gedicht, dort eine Erzählpassage. Biografische Parallelen oder thematische Verknüpfungen führen ihn dann jeweils zum nächsten verschollenen Autor und zum übernächsten wiedergefundenen Text.

Irgendwie entdeckt er dabei Gudrun Wiedock, die 1993 das Buch "Abhandlungen" verfasste, darin 1.380 Titel von Büchern auflistete und ankündigte, für jeden dieser Titel einen Aufsatz oder eine Exzerpt schreiben zu wollen. Die Autorin ist inzwischen verstorben und es bleibt im Dunkeln, was aus ihrem Plan geworden ist.

Witzel entführt uns auch in das literarische Universum von Georg Schuchardt, der in den 1980er Jahren das Magazin "Die Kritik" herausgab, in dem unzählige literarische Werke besprochen wurden. Später gab Schuchardt zu, sämtliche der von ihm besprochenen Bücher frei erfunden zu haben und es ihm allein um die literarische Qualität der Rezensionen ging.

Viele Namen werden aus dem "See des Vergessens" gefischt - auch Veronika Strobl, die sich ausschließlich mit den gewaltsamen Toden von Schriftstellen beschäftigte, oder Ingeborg Harms, die 1992 mit "Hard Drive - 3 Videos" ein vielbeachtetes Debüt hinlegte, das sogar im "Literarischen Quartett" allerhöchstes Lob von Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler und Helmut Karasek bekam. Doch es hat nichts genützt: Die Autorin, die an der Universität der Künste in Berlin arbeitet, ist literarisch für immer verstummt.

Ausgrabungsarbeit ohne großen literarischen Mehrwert

Es ist unwahrscheinlich, dass Witzels Buch dazu beiträgt, die Vergessenen, Verkannten und Verschollenen literarisch zu rehabilitieren. Viele der wieder entdeckten Autoren und Texte sind eher von minderer Qualität und zu recht dem Vergessen anheim gefallen. Die Ausgrabungsarbeit ist ein neckisches Spiel ohne großen literarischen Mehrwert. Das weiß Witzel auch selbst:

"Es ist so gut wie sicher", schreibt er, "dass die meisten der hier Vorgestellten wohl weiter vergessen, verkannt und verschollen bleiben werden, daran können auch die kurzen Schlaglichter, die ich in die Vergangenheit zu richten versucht habe, nichts ändern."

Während seiner Arbeit habe er die "Erfahrung gemacht, dass die Suche nach Vergessenem keineswegs (…) einige wenige Lücken stopft, vielmehr scheint sie immer mehr Vergessenes zu produzieren. Das Vergessenwerden (…) ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel."

Die unterhaltsame und gelegentlich amüsante Fleißarbeit wird wohl recht schnell in Vergessenheit geraten und nur für Leser interessant sein, die bei der Lektüre eines neuen Romans von Frank Witzel ins Grübeln kommen und mehr über die literarischen Obsessionen des Autors wissen wollen.

Frank Dietschreit, rbbKultur