Kleine schmutzige Briefe © STUDIOCANAL/Parisa Taghizadeh
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Komödie - "Kleine schmutzige Briefe"

Bewertung:

"Poison pen letters" ist der englische Ausdruck für anonyme Briefe mit dem Giftstift. "Kleine schmutzige Briefe" heißt der Film der britischen Regisseurin Thea Sharrock, der diese Woche bei uns im Kino startet. Er ist brillant besetzt mit Olivia Colman, die in Sam Mendes' Film "Empire of Light" so überzeugend eine verletzte Seele gespielt hat. In weiteren Rollen sind Jessie Buckley und Timothy Spall zu sehen. Die Geschichte spielt in der englischen Kleinstadt Littlehampton – die wahre Begebenheit hat damals das ganze Land in Atem gehalten ...

Eigentlich handelt es sich um einen Streit zwischen Nachbarinnen - und so wurde der Fall auch wieder bekannt. Die britische Historikerin Emily Cockayne recherchierte zu Nachbarschaften und stieß auf die Dokumente, die in den 1920er Jahren für landesweite Aufregung sorgten.

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Die Geschichte spielt in einer klassischen englischen Arbeitersiedlung, viele Menschen leben auf engstem Raum. Die historische Familie Swan soll mit 13 Kindern in zwei Zimmern gewohnt haben. Im Film lebt nur noch die ledige Tochter Edith mit ihren Eltern unter einem Dach. Und direkt gegenüber ihre Nachbarin Rose Gooding mit ihrer Tochter und ihrem Freund. Die beiden Parteien teilen sich den Hof für die Wäsche, die Außentoilette und die Badewanne.

Der Film beruht auf historischen Gerichtsprotokollen

Erst sind es Kleinigkeiten, die stören, dann aber landen obszöne Briefe bei der Familie Swan und natürlich gerät die Nachbarin Rose Gooding in Verdacht. Der Vater von Edith Swan erstattet Anzeige. Drehbuchautor Jonny Sweet hat auf die Originalschreiben zurückgegriffen, die damals nicht in der Presse oder vor Gericht zitiert werden durften. Im Film muss der Polizist erst einmal schlucken, bevor er den Brief laut liest:

"Verehrte Edith. Du fuchsteufelsgeile Hure. Heiliger Himmel. Du bist eine verrottete alte Fotze. Du gehörst in die Hölle. Und Du bist außerdem ein stinkendes Miststück.“

Grandiose Schauspielerinnen

Olivia Colman spielt Edith Swan als die rechtschaffene, pflichtbewusste, glaubensfeste Tochter. Aber die Spezialität von Colman ist es, die gefährlichen Unterströmungen sichtbar werden zu lassen, die ihre Figuren in Gefahr bringen. Hier spürt man das Beben und Zittern, den Druck, sich den Konventionen anzupassen, die Sehnsucht nach Anerkennung und schließlich die pure Angst vor dem mächtigen Familienoberhaupt. Es ist eine wunderbare Fallstudie für einen Charakter, der nie aus dem Schatten der Eltern getreten ist.

Jessie Buckley spielt das Gegenteil. Ihre Rose Gooding ist aus Irland zugezogen, ihr Mann ist im Krieg gefallen. Jetzt lebt sie mit einem Musiker zusammen, schert sich nicht um Konventionen und auch nicht darum, dass sie mit ihrem Lebensstil in der Siedlung aneckt. Jessie Buckley als Rose tritt gerade, direkt, ungezwungen auf. Ihre Freiheit ist eine Provokation für ihre Nachbarin.

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Kriminalfall in einem gesellschaftlichen Umbruch

Thea Sharrock interessiert sich für den Wandel der Konventionen. Der Erste Weltkrieg ist zu Ende, viele Männer sind gefallen, den Frauen kommt eine neue Rolle zu. Die 1920er Jahre versprechen mehr Freiheit und mehr Lebenslust. Am deutlichsten wird das an der Figur der Polizistin Moss, die den Fall aufklären will: Sie muss sich jedes Mal als "weiblicher Polizeibeamter" vorstellen, wenn sie nachforscht. Anjana Vasan ist urkomisch, wie sie mit ungerührter Miene die Unverschämtheiten ihrer männlichen Kollegen über sich ergehen lässt. Dann aber verschwindet sie im Flur und tobt lautlos einen Wutanfall aus. Die Regisseurin konzentriert sich auf die Gratwanderung der drei Frauen zwischen alten und neuen Rollenbildern. Zum Ensemble gehört auch Timothy Spall als der Patriarch, dem man aber anmerkt, dass er an Macht verliert.

Der Film ist ein Balanceakt. Schauspielerinnen und Schauspieler parodieren den Tonfall minimal, schrägen ihre Figuren leicht an, so dass man nie weiß: ist die Geschichte eine Farce oder Realität?

Simone Reber, rbbKultur